Donnerstag, 28. April 2011

Das Rusellsche Huhn

Ein nicht unerheblicher Teil des menschlichen Wissens basiert auf der Annahme der Gleichförmigkeit der Natur bzw. der Annahme allgemeingültiger Regeln natürlicher Abläufe, d.h. das was bisher immer so geschah wird auch in Zukunft weiterhin genauso geschehen. Nun stellt Euch aber doch bitte einmal folgende Geschichte vor: 

Ein Huhn, dass bei einem Bauern in einem Stall lebt, wird seit seiner Geburt, also seitdem es atmen, denken und Erfahrungen sammeln kann, von seinem Bauern jeden Tag mit ausreichend Nahrung versorgt. Nun geschieht nach vielen Jahren am Weihnachtsabend  jedoch Folgendes: "Der Mann, der das Huhn tagtäglich gefüttert hat, dreht ihm zu guter letzt das Genick um." (Bertrand Russell)

Mit der selben Gewissheit mit der wir ohne jeden Zweifel annehmen, dass auch morgen wieder die Sonne aufgehen wird, ging das Russellsche Huhn durch seine Erfahrung (Dieser Mann hat mir jeden Tag, seit meiner Geburt das Futter gebracht) davon aus, dass die Regel (Dieser Mann bringt jeden Tag Futter) auch weiterhin gelten wird. Immerhin galt sie bisher Tag für Tag und ohne Ausnahme. Russell argumentiert nun, dass "uns unsere Instinkte mit Bestimmtheit glauben [lassen], dass die Sonne morgen früh aufgehen wird; aber es könnte ja sein, dass wir in keiner besseren Lage sind als das Huhn, dem wider besseres Erwarten das Genick umgedreht wird." Und tatsächlich, es ist nicht vollkommen auszuschließen, dass gerade jetzt in diesem Moment im Innersten unserer Sonne ein uns leider bisher verborgen gebliebener Kollapsprozess stattfindet, der sie schon morgen in einer großen Supernova zu Staub und Asche zerfallen lässt.

Was bedeutet dies nun für uns? Zunächst einmal, dass es nichts gibt, was außerhalb unseres bisherigen Erfahrungsbereichs liegt, über das wir objektiv absolute Gewissheit, also vollkommene Sicherheit gewinnen können. Einige große Denker, wie z.B. Voltaire, hat dies letzlich zum Skeptizismus verführt. Sie erhoben den Zweifel zur grundsätzlichen Maxime ihres Denkens. Auch Sokrates erkannte schon in der Antike "Ich weiß, dass ich nicht weiß" (Anmerkung: Es heißt tatsächlich so. Beim zumeist unterstellten Wortlaut "Ich weiß, dass ich nichts weiß" handelt es sich um einen Übersetzungsfehler).

Es gibt jedoch noch eine andere Möglichkeit: Vertrauen. Aus pragtischer Sicht bleibt uns im Endeffekt  gar nichts anderes übrig. Jede Handlung erfolgt letzten Endes im Vertrauen darauf, dass uns unsere Erfahrung, die sich ja in einem jahrelangen Entwicklungsprozess herausgebildet und an der Realität bewährt hat, auch in Zukunft nicht im Stich lassen wird:

Wir greifen nach einem vor uns stehendem Glas Wasser, in der Annahme, dass wir es so in die Hand nehmen können. Wir steigen in ein Flugzeug, weil wir fest daran glauben, dass die natürlichen Gegebenheiten, die Flugzeuge bisher haben fliegen lassen, auch weiterhin ihre Geltung behalten werden. Wir pflanzen das Samenkorn eines Apfelbaums in die Erde, weil wir davon ausgehen, dass daraus auch ein Apfelbaum und nicht etwa ein Fahnenmast entspringen wird.

Ohne dieses Vertrauen, wären wir letzten Endes vollkommen handlungsunfähig:

Wieso sollte ich vor die Tür gehen, wenn ich nicht darauf vertrauen würde, dass mich der Luftdruck draußen nicht zerquetschen wird? Und vor allem: Was sollte ich alternativ tun?

(Begründetes) Vertrauen ist also sinnvoll. Und genau dies tun wir tagtäglich. Unser Vertrauen in unsere bewährte Erfahrung ist so groß, dass wohl nahezu alle von uns, zumindest mit rein subjektiv gefühlter absoluter Gewissheit davon ausgehen werden, dass auch morgen die Sonne aufgehen wird. Wieso sollten wir dies auch nicht tun? Dazu gibt es keinen Grund. Nur objektiv beweisen, können wir es halt nicht. Das Argument "Die Sonne ging seit Abermillionen von Jahren immer und jeden Tag auf" mag vielleicht richtig sein, aber es sagt nur etwas über die Vergangenheit, nicht jedoch über die Zukunft aus. Wir unterstellen, normalerweise ohne dies explizit zu machen, die Annahme: "Und was in der Vergangenheit passiert ist, wird unter gleichen Bedingungen auch in Zukunft so passieren". Beweisen können wir dies jedoch nicht, da wir unmöglich heute schon wissen können, wie unsere Erfahrungen von morgen sein werden. (Auf die Kontroverse zwischen Determiniertheit und Indeterminierheit der Zukunft, will ich mich hier gar nicht einlassen. Für meine Argumentation reicht die Feststellung aus, dass wir unser zukünftiges Wissen nicht bereits heute besitzen können.) Wir können darauf vernünftigerweise nur Vertrauen.

Aber wenden wir uns doch einmal einigen etwas weniger drastischen Ereignissen, als der Supernova unseres Sonnensystems zu.  Mit der gleichen Argumentation, mit der das Russellsche Huhn davon ausging, dass der Bauer ihm jeden Tag sein Futter bringen würde, wird und wurde in den Naturwissenschaften tagtäglich gearbeitet. Alle uns bekannten Naturgesetze wurden so "bewiesen". Betrachten wir z.B. das typische Vorgehen eines Physikers:

Er baut eine bisher so noch nicht dagewesene Versuchsaparatur auf, z.B. irgendeine Art neuartiges Pendel und entdeckt in dem Verhalten dieses Pendels eine gewisse Regelmäßigkeit. Diese Regelmäßigkeit tritt bei jedem Versuchsdurchlauf immer und immer wieder auf. Der Forscher beschreibt und veröffentlicht seinen Versuch, und auch andere Forscher, die sein Experiment anderswo nachbauen, entdecken stets die gleiche Regelmäßigkeit (z.B. die Pendelgesetze). Nach und nach gehen sie schließlich davon aus, dass es sich bei der entdeckten und beschriebenen Regelmäßigkeit um ein Naturgesetz handelt.

Man nennt dieses Vorgehen, bzw. die dahinterstehende Logik auch "Induktion". Nun haben wir jedoch gesehen, dass ein allgemeingültiger Beweis mittels Induktion eigentlich nicht möglich ist, zumindest nicht mit objektiver aboluter Sicherheit (auch wenn einige Naturwissenschaftler dies immer noch glauben). Dies hatte bereits David Hume vor mehr als 250 Jahren erkannt. Man unterstellt dabei stets die metaphysische Annahme der Gleichförmigkeit der Natur. (Lustigerweise wird die Metaphysik gleichzeitig von all denjenigen Naturwissenschaftlern, die sich in der Tradition des Logischen Empirismus sehen und daher immernoch an endgültige Beweise mittels Induktion glauben, als "unsinnig" angesehen.) Karl Popper und einige andere Kritische Rationalisten führte dies dagegen zur vollkommenen Ablehnung des induktiven Vorgehens als wissenschaftliche Methode.

Doch auch wenn absolute und objektiv sichere Erkenntnis mittels Induktion unmöglich ist, so hat die Vergangenheit auch gezeigt, dass die Wissenschaften mittels Induktion jede Menge Wissen hervorgebracht haben, auf das wir heutzutage vertrauen und dem wir auch aus gutem Grund vertrauen dürfen. Auch ich würde mich jederzeit wieder in ein Flugzeug setzen ohne daran zu zweifeln, dass die aerodynamischen Strömungsgesetze der Physik, die Flugzeuge bisher haben fliegen lassen, auch für diesen Flug ihre Gültigkeit behalten werden. Ich habe keinerlei Grund, dies nicht zu tun. Damit scheint die Induktion zumindest eine sehr brauchbare Heuristik zu sein, um an Wissen zu gelangen, dem wir vertrauen dürfen.

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