Dienstag, 26. April 2011

Der Naturalistische Fehlschluss

Als Fehlschluss wird im Allgemeinen eine Schlussfolgerung (Konklusion) aus vorherigen Behauptungen (Prämissen) bezeichnet, die isoliert betrachtet logisch eigentlich nicht zwingend ist. Dies heisst nicht, dass die abgeleitete Aussage nicht richtig sein könnte, allerdings ergibt sich ihre Korrektheit eben nicht zwingend aus den angeführten Prämissen (aber vielleicht aus anderen Prämissen, die man in der Herleitung jedoch - bewusst oder unbewusst - nicht angeführt hat).

Eine besondere Art Fehlschluss ist dabei der sogenannte naturalistische Fehlschluss, wie ihn der englische Philosoph George Edward Moore 1903 in seinem Werk Principia Ethika zuerst umschrieben hat. Dabei darf man allerdings nicht vergessen, dass diese Art Fehlschluss von vielen Menschen seit Jahrtausenden immer und immer wieder gezogen wurde (mit teils verheerenden Konsequenzen, wie wir noch sehen werden.)

Beim naturalistischen Fehlschluss werden aus reinen Tatsachenbeschreibungen normative Regeln hergeleitet, d.h. auf Grundlage dessen, wie etwas beschaffen ist, werden weitere Konsequenzen darüber begründet, wie etwas sein sollte. Die (falsche) "Logik" des naturalistischen Fehlschlusses lautet damit in etwa wie folgt:

Eine Tatsache / ein Verhalten / eine Eigenschaft A kommt in der Natur vor und deswegen ist A (und damit auch alle Folgerungen aus A) automatisch richtig bzw. erstrebenswert.

Diese Argumentationsweise ist aber logisch falsch, da die Ableitung einer normativen Aussage nur dann gültig ist, wenn mindestens eine der Prämissen ebenfalls ein wertendes Argument darstellt. Die soeben dargestellte allgemeine Form des naturalistischen Fehlschlusses basiert z.B. implizit auf der Annahme, dass das, was natürlich ist auch immer gut ist. Nur wenn dem tatsächlich so wäre, sind derartige Folgerungen zutreffend. Gut ist jedoch ein wertendes Prädikat, dass Dingen oder Sachverhalten erst durch ein normatives Urteil von einem jedem Menschen individuell zugeschrieben werden muss. Verschiedene Menschen haben sehr häufig andere Vorstellungen darüber, was wünschenswert und damit gut ist, und was nicht. (Leider versuchen Sie dann oft, andere von der "Richtigkeit" ihrer Vorstellungen, notfalls unter Zuhilfenahme von Gewalt zu "überzeugen". In der Geschichte der Menscheit wurden und werden leider immer noch allzu oft Kriege aufgrund unterschiedlicher Ansichten über das Gute oder das Richtige geführt. Man denke z.B. an den Nordirlandkonflikt oder den kalten Krieg.) Welchen Dingen, das Prädikat gut zukommen soll, ist letztendlich das Produkt menschlicher Entscheidungen. Die Natur an sich kann nicht gut oder schlecht sein. Sie ist zunächst einmal so wie sie ist. Gut oder schlecht werden natürliche Dinge und Sachverhalte erst durch wertende Entscheidungen von menschlichen Individuen. Diese Entscheidungen sind stets subjektiv, was allerdings nicht heißt, dass nicht eine Vielzahl von Menschen unabhängig voneinander, z.B. durch vernünftige Überlegungen, zum selben Urteil darüber kommen können, was sie als gut oder schlecht ansehen wollen. Wenn die Individuen eines Kollektivs intersubjektiv übereinstimmend zur selben Auffassung über etwas Wünschenswertes gelangen, kann diese Ansicht zumindest für dieses Kollektiv als unproblematisch im Sinne Karl Popper's angesehen werde. Dadurch wird sie aber nicht richtiger oder wahrer. Man kann allerdings davon ausgehen, dass allen weiteren Folgerungen, die aus diesem Urteil gezogen werden, die volle Zustimmung der Individuen des Kollektivs zuteil werden wird. (Wenn dem nicht so sein sollte, bedeutet dies, dass die ursprüngliche normative Aussage modifiziert oder in ihrer Gültigkeit eingeschränkt werden muss.)

Der naturalistische Fehlschluss findet sich häufig in typischen Rechtfertigungen von moralischen Forderungen, wie sie von verschiedenen Organisationen und Autoritäten aus Religion, Philosophie, Politik aber auch der Wissenschaft immer wieder hervorgebracht werden. Hierzu ein Beispiel:

Gegner von gleichgeschlechtlichen Liebesbeziehungen begründen ihre Abneigung immer wieder damit, dass die "Natur" beim Menschen zwei Geschlechter eingerichtet hat und jede andersgeartete Form von Partnerschaft damit "wider die Natur des Menschen" sei. (Sie übersehen dabei übrigens, dass homosexuelles Verhalten im Tierreich eher die Regel als die Ausnahme ist.)

Doch einzig und allein daraus, wie die Dinge gerade sind, lässt sich eben nicht einfach folgern, wie die Dinge sein sollten, zumindest nicht logisch zwingend. Vom Sein kann nicht auf's Sollen geschlossen werden. Dies kann sehr gut verdeutlicht werden, indem man die Argumentationsweise des naturalistischen Fehlschlusses einmal ad absurdum führt:

Folgt aus der Tatsache, dass Menschen evolutionsbiologisch gesehen von Natur aus eher polygam veranlagt sind wirklich, dass Menschen keine monogamen Paarbeziehungen haben sollten? Können wir aus der Tatsache, dass der Wohlstand auf der Welt nicht gleichmäßig verteilt ist logisch schließen, dass Armut etwas Gutes ist? Wohl kaum.

Naturalistische Fehlschlüsse haben in der Geschichte der Menschheit durchaus schon weitreichende und zum Teil verhängnisvolle Konsequenzen gehabt: 

So wurde Jahrhunderte lang die natürliche Gegebenheit, dass Männer meist über eine größere Muskelkraft als Frauen verfügen unter anderem als Begründung dafür angeführt, dass die Männer über die Frauen herrschen sollen. Glücklicherweise widerspricht dies mittlerweile den Vorstellungen der meisten aufgeklärten und vernünftigen Personen. Vor nicht einmal 100 Jahren, wäre dies durchaus noch anders gewesen.

Verheerende Folgen hatte ein naturalistischer Fehlschluss, als er in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nach und nach zur Ideologie der Sozialdarwinismus ausgeformt wurde. Was war hier passiert? Zum einen wurde Darwins "survival of the fittest" fälschlicherweise als das "Überleben des Stärkeren" interpretiert (im Gegensatz zum tatsächlich gemeinten "Überleben des Bestangepassten"). Zum anderen wurde die evolutionsbiologische Tatsache, dass in der Natur durch natürliche Selektion nur die "fittesten" Arten auf Dauer überleben, unreflektiert auf menschliche Gesellschaften übertragen und damit letztendlich Imperialismus, Kollonialismus und Rassismus  begründet, mit allen ihren negativen Konsequenzen.

Lustig wird es dagegen, wenn man z.B. aus der Tatsache, dass Menschen rülpsen können, folgern wollen würde, dass sie dies jederzeit und überall tun sollten. Oder daraus, dass Menschen im Sommer schwitzen, dies auch im Winter tun sollen. Klingt ziemlich absurd, folgt aber derselben "Logik".
 
Dies bedeutet nun allerdings nicht, dass natürlich Gegebenheiten für die individuelle Entscheidung über das Gute, keine Berücksichtigung finden sollten. Auch wenn aus Tatsachen eine normative Aussage nicht logisch zwingend abgeleitet werden kann, erscheint es dennoch vernünftig, wenn man bei seiner Entscheidung darüber, was man als wünschenswert bzw. als nicht wünschenswert ansehen möchte, alle für den Sachverhalt relevanten Tatsachen berücksichtigt. Es wäre nahezu naiv, dies nicht zu tun. Jede (gehaltvolle) Information kann die Qualität einer Entscheidung verbessern. In einigen Fällen bewerten verschiedene Menschen eine natürliche Gegebenheit gleich oder zumindest ähnlich, z.B. weil sie vergleichbare Erfahrungen mit ebendiesem Sachverhalt gemacht haben. So würden wohl die meisten Menschen der folgenden Argumentation vorbehaltlos zustimmmen:

Menschen und Tiere sind mit einem komplizierten Nervensystem ausgestattet, durch das sie in der Lage sind, Schmerzempfindungen zu erfahren. Die meisten Lebewesen versuchen Schmerzen zu vermeiden. Daher sollte man anderen Lebewesen nicht unnötig Schmerzen zufügen.

Der Unterschied zum naturalistischen Fehlschluss besteht hier darin, dass man dieser Begründung nicht deswegen zustimmt, weil sie aus der natürlichen Funktionsweise des Nervensystems schlüssig und logisch gültig zu folgern ist. Vielmehr haben nahezu alle Menschen (bis auf die wenigen Anhänger der SM-Kultur vielleicht) die Erfahrung gemacht, dass sie Schmerzen als unangenehm empfinden und daher Schmerzen als etwas Schlechtes bzw. möglichst zu Vermeidendes ansehen. Aus diesem Grund dürfen und können die Menschenrechte der Vereinten Nationen auch weltweit allgemeine Gültigkeit beanspruchen. Nicht weil der Mensch von Natur aus, mit irgendwelchen Rechte ausgestattet wurde (Ich wüsste nicht, wie die Natur dies tun sollte), sondern einfach deshalb, weil es vernünftig erscheint, davon auszugehen, dass kein Mensch gerne gefoltert werden möchte, jeder Mensch ein Interesse an körperlicher Unversehrtheit hat, gerne in Freiheit leben möchte usw. Moralische Argumentationen können und sollten sich also sehr wohl auf Fakten beziehen und anhand dieser vernünftig diskutiert werden, nur eine ursächliche Ableitung ist logisch eben nicht möglich.



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